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Hör- und Gleichgewichtsprobleme & MS

Junge Frau bildet mit Hand am Ohr einen Schalltrichter und lässt Hördefizit erkennen
Manifestationen der Multiplen Sklerose (MS) im Hör- und Gleichgewichtssinn, wie z.B plötzlicher Hörverlust und Schwindel, aber auch ein Fremdkörpergefühl werden gelegentlich bei MS Patient:innen berichtet. Der Hör- und Gleichgewichtssinn stehen in engem Zusammenhang, da sich ihre Nervenfasern aneinander anlagern und als gemeinsamer Nerv, dem achten Hirnnerven, ins Gehirn geleitet werden. In diesem Artikel sprechen wir über Hör- und Gleichgewichtsprobleme, die dabei im Rahmen einer MS auftreten können.

Wie funktioniert das audio-vestibuläre System

Um zu verstehen, wie MS solche Beschwerden auslösen kann, ist es hilfreich, zu verstehen, wie das menschliche Ohr funktioniert. Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass das Ohr aus Außen- und Innenohr besteht. Im Innenohr befindet sich zusätzlich das Gleichgewichtsorgan des Menschen.

Hören

Geräusche und Töne sind Schallwellen, die auf das Trommelfell treffen und es so in Schwingung versetzen. An der Rückseite des Trommelfells befinden sich 3 Gehörknöchelchen: Hammer, Amboss und Steigbügel. Sie dienen der Verstärkung und Weiterleitung des Schalls zur Hörschnecke (auf Latein: Cochlea). Die Cochlea wandelt die mechanischen Bewegungen in ein elektrisches Nervensignal um. Grob gesagt bringt jede Frequenz eine andere Stelle in der Cochlea zum Schwingen. Und dort sind ebenfalls Zellen, die diese Schwingungen wahrnehmen und dadurch aktiviert werden. Die aktivierten Zellen geben elektrische Signale in Richtung des Gehirns weiter.

Gleichgewicht

Im Innenohr haben wir zwei Systeme, die lineare Beschleunigungen, also horizontale und vertikale Beschleunigungen und Rotationen erfassen. Dadurch kann die Lage im Raum und Bewegungen bestimmt werden. Wenn die Zellen ihren jeweiligen Reiz erhalten (z.B bei einer Drehung des Kopfes), geben sie ein elektrisches Signal weiter.

Wie funktioniert das audio-vestibuläre System

Struktur- und Funktionsgrafik für das Hör- und Gleichgewichtsorgan
Hör- und Gleichgewichtsorgan
Die Nerven aus Hörorgan und Gleichgewichtsorgan vereinigen sich zum Hörnerven. Dieser tritt in den Hirnstamm ein und wird dort in Hirnnervenkernen umgeschaltet. Von dort geht das Signal in Richtung Großhirnrinde. Da beim Hör- und Gleichgewichtssinn wichtig ist, dass die Signale schnell weitergeleitet werden, sind die Nervenzellen auf dem ganzen Weg vom Innenohr bis zur Großhirnrinde mit Myelin isoliert. Das Myelin kannst du dir dabei wie eine Isolierschicht um den Nerven vorstellen. Die Myelinscheide ist die Grundlage für eine schnelle Weiterleitung von elektrischen Signalen.

Sensorineurale Schwerhörigkeit (Innenohrschwerhörigkeit)

Ca. 1% der MS Patient:innen berichten von einer Beeinträchtigung des Gehörs, in den meisten Fällen tritt das in Form von plötzlichem Hörverlust auf. “Sensorineural” heißt hier, dass die Ursache der Schwerhörigkeit in der Cochlea oder der Hörbahn liegt. Da die Nervenbahn auf dem Weg vom Ohr bis zum Großhirn mit Myelin isoliert ist, wird sie hin und wieder im Rahmen der Multiplen Sklerose angegriffen und entisoliert. Oft findet das im Bereich der Hirnnervenkernen statt, den ‘Umschaltstationen’ im Hirnstamm. Allerdings kann das auch im Temporallappen passieren. Das ist der Bereich im Gehirn, in dem der Gehörsinn verarbeitet wird. Aber nicht nur Schwerhörigkeit, auch Tinnitus und ein Druckgefühl im Ohr kann dadurch entstehen.

Schwindel/Vertigo

Ungefähr eine:r von drei Patient:innen klagen in ihrem Krankheitsverlauf zeitweise über Schwindel. Schwindel ist im allgemeinen Sprachgebrauch ein weit gefasster Begriff. Im Englischen wird der Begriff ‘Schwindel’ noch klarer definiert. Unterscheiden lassen sich ‘dizziness’ und ‘vertigo’. Das Gefühl des Schwindels lässt sich auf viele Ursachen zurückführen. So kann Schwindel einerseits vestibulär bedingt sein, d.h. die Ursache sitzt dabei im Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) und/oder im zentralen Nervensystem (ZNS), oder andererseits nicht-vestibulär bedingt sein. Ursachen des nicht-vestibulär bedingten Schwindels können z.B. Herzkreislauferkrankungen sein, aber auch Muskelschwächen, verschwommen Sehen etc. Letztere können auch bei einer MS auftreten.
Bei einer vestibulären Störung unterscheidet man noch weiter in den zentral vs. peripher bedingten Schwindel. Beim peripher vestibulär bedingten Schwindel sitzt die Ursache im Gleichgewichtsorgan, also im Ohr selbst. Beim zentral bedingten Schwindel kommt jetzt die MS ins Spiel. Die Nervenfaser von den Hör- sowie Gleichgewichtsnerven sind bis zum Eintritt in den Hirnstamm sogenannte ‘periphere Nerven’. Diese ‘peripheren Nerven’ sind genau wie auch die Nervenbahnen im ZNS von einer Myelinschicht umgeben, allerdings unterscheidet sich diese Myelinschicht von der im ZNS. Bei einer MS Erkrankung werden überwiegend die zentralen Nervenbahnen angegriffen, also die Bahnen, die die Informationen von den peripheren Nerven zur Großhirnrinde weiterleiten. Tritt nun eine MS Läsion genau im Bereich der Nervenbahn für den Gleichgewichtssinn auf, verspürt der/die Patient:in Schwindel. Wichtig ist, dass Schwindel nicht gleich Schwindel ist und viele unterschiedliche Ursachen haben kann. Ebenso wichtig ist, dass Schwindel ein Symptom der MS sein kann, aber auch andere Ursachen haben kann. Deshalb gilt es immer den:die Patient:in genau zu untersuchen, um der Ursache auf die Schliche zu kommen.

Untersuchung

Zur Untersuchung des Hör- sowie Gleichgewichtssinns gibt es mehrere Möglichkeiten. Die klinische Untersuchung ist dabei sehr wichtig. Um die Störungen besser einordnen zu können, können MRT- Diagnostik und sogenannte evozierte Potentiale helfen. Anhand von evozierten Potentialen können Gehirnströme dargestellt werden und die Weiterleitung über die Nerven sowie Nervenbahnen gemessen werden. Dafür werden dem:der Patient:in Elektroden auf die Haut gelegt und akustische Signale vorgespielt. Diese akustischen Signale werden dann, wie oben beschrieben, in elektrische Signale im Innenohr umgewandelt. Die Weiterleitung dieser Signale erfolgt im gesunden Zustand in einer bestimmten Geschwindigkeit. Wenn auf dem Weg zwischen Ohr zur Großhirnrinde eine Schädigung vorliegt, verzögert sich dieses elektrische Signal. Diese Verzögerung lässt sich in der Untersuchung dann nachweisen. So kann man bei Schädigungen der Hörbahn feststellen, wo genau auf dem Weg vom Hörorgan zum Gehirn die Weiterleitung gestört ist. Evozierte Potentiale nutzt man auch in der Messung von weiteren Sinnesbahnen, beispielsweise der Sehbahn. Das Wort ‘evoziert’ bezieht sich darauf, dass bei dieser Untersuchung ein Stimulus erzeugt wird, beispielsweise ein Ton, welcher dann durch die Sinnesorgane in elektrische Signale ans Gehirn weitergeleitet wird.
Die MRT Untersuchung erfolgt routinemäßig bei MS-Patient:innen. Die Multiple Sklerose Herde zeigen sich in bestimmten MRT Sequenzen als sogenannte “white matter hyperintensities (WMH)”, also signalintensivere Regionen in der weißen Substanz des Gehirns. Als weiße Substanz bezeichnet man den Teil im Inneren des Gehirns, in dem sich die Nervenbahnen befinden. Neuere Studien geben an, dass bei MS Patient:innen diese WMHs auch in der Cochlea und dem Hörnerven gefunden wurden, was für eine Beteiligung dieser Strukturen bei einer MS stehen kann. Die MS wird klassischerweise als Erkrankung des ZNS gesehen, weshalb der Befall von peripheren Strukturen erstmal überraschend klingt. Dass auch periphere Nerven durch die MS angegriffen werden können, ist eine relative neue Hypothese/Erkenntnis und Bedarf weiterer Forschung. Die Ohrenprobleme könnten somit ein seltenes, aber wichtiges Frühsymptom der MS sein.

Behandlung

Die Symptome bezogen auf die Hörbahn können mit Glukokortikoiden behandelt werden. Glukokortikoide kommen beispielsweise auch bei der Schubtherapie der MS im Einsatz, dort jedoch in viel höheren Dosen. Allerdings ist die Therapie in diesem Fall nur symptomatisch. Von symptomatischer Therapie spricht man, wenn nur die Symptome und nicht das grundlegende Leiden/die Erkrankung selbst therapiert wird. Häufig klingen die Symptome auch von selbst wieder ab oder treten nur im Rahmen von Schüben auf. Haben die Betroffenen trotz medikamentöser Therapie immer noch Probleme mit dem Hören, können Hörgeräte zum Einsatz kommen.

Zusammenfassung

Ohrenprobleme, wie z.B plötzlicher Hörverlust oder ein Fremdkörpergefühl sind durchaus Phänomene, die bei der MS auftreten können. Teilweise werden sie sogar als mögliche frühe Manifestationen der MS diskutiert. Mithilfe von MRT und evozierten Potentialen kann eine Beteiligung von Innenohr, Hörnerv oder Hörbahn festgestellt werden. Behandelt werden die Ohrenprobleme mithilfe von Glukokortikoiden.

Quellen

Multiple Sklerose